Oh, Apple … Wo ist deine Substanz geblieben?

Die Keynote der diesjährigen WWDC ist 24 Stunden vorüber, ich habe auf kritische Berichte, die den Finger auf die Wunde legen, gewartet, aber nichts gefunden. Webseiten wie die von Mac Life schreiben brav über die angekündigten Neuerungen, selbst mac and i vom Heise-Verlag berichtet bisher nur, statt zu kommentieren. Dabei war das gestern Abend – von wenigen Momenten abgesehen – eine wirklich substanzlose Keynote, ja, ich würde sagen: fast eine demaskierende Nullnummer. Es gab Momente, da wäre man am liebsten im Couch-Sessel weggenickt, zumindest wenn man nicht wie ich trauert und sich ärgert, dass die Apple-Keynotes inzwischen so uniform langweilig sind. Aber schön der Reihe nach …

OS X

OS X El Capitan. Muss nur ich da an „El capital“ denken, daran, dass es eben bei Apple zu viel ums Geld und um die Massen geht? Da werden uns ein paar Minifeatures präsentiert: Tabs in Mail, Trackpadgesten für das Löschen von Mails, Pinned Sites (die Übersetzung steht noch aus) für Safari, Splitviews auf dem Bildschirm, die Windows schon länger kennt, und die Perfektionierung von Spotlight. Große Würfe sind etwas anderes. Ich will nicht meckern, wenn El Capitan sich ein bisschen snappier auf meinen Macs anfühlt als Yosemite, aber Visionen, was man mit Computern machen kann, sehen anders aus. Man könnte sich ja z. B. mal darüber Gedanken machen, wie ein modernes Mailprogramm aussehen könnte. Ich würde gerne Mails für ein paar Tage schlummern lassen, um sie dann wieder vorgelegt zu bekommen (eine Idee, die in der von Dropbox aufgekauften App Mailbox umgesetzt wird). Aber stattdessen bekommen wir seit Jahren immer wieder das gleiche Mailprogramm von Apple vorgesetzt – mit etwas Facelifting und kleinen neuen Bedienungsfeatures.

Jedenfalls gesellt sich da mein Ärger aus den vergangenen Monaten bereitwillig dazu. Mein Bildbearbeitungs- und Bildverwaltungsprogramm Aperture: abgeschossen zugunsten einer Consumer-App, bei der partielle Bildbearbeitung ein Fremdwort ist. Was will ich damit als halbwegs ambitionierter Hobby-Fotograf? iWork 13: kann noch immer nicht das, was die Vorversion konnte (ich nenne mal nur die Verkettung von Textrahmen in Pages). Apples Craig Federighi, der El Capitan auf der Bühne vorstellte, ist unterhaltsam, aber die Leere bei der Ankündigung neuer Features in OS X El Capitan kann er auch nicht mit seinem zweimal platzierten halbironischen Satz „That’s innovation“ verbergen.

Wo bei mir jedoch am meisten Ärger hochkam, war, als die neuen Grafikmöglichkeiten der nun auch für den Mac zur Verfügung stehenden Grafik-API Metal demonstriert wurden. Da wurden zwei Entwickler von Epic Games eingeladen, um ein neues Spiel zu präsentieren: das Zombie-Game „Fortnite“. Ich habe beileibe nichts gegen Computerspiele – aber ein banaleres hack’n’slay-Spiel (die anderen Adjektive, die mir hier durch den Kopf gehen, lasse ich mal lieber außen vor) hätte man nicht für die Keynote auswählen können …

Und iOS 9?

Auch hier gibt es jetzt Splitviews, Multitasking genannt. Man kann nun Videos im Fensterchen weiterlaufen lassen, während man eine Mail schreibt. Notes wurde überarbeitet (ja, sinnvoll). Das System verhält sich noch intelligenter bei Anfragen und merkt sich meine Vorlieben – bald kennt mein iPad oder mein iPhone mich besser als sonst jemand auf der Welt. Apple verspricht, dass die Daten im Gerät bleiben. Immerhin. (Ob man das glaubt, muss jeder selbst entscheiden …) Aber brauche ich das? Will ich ein Leben in der Yuppie-Komfortzone, bei der mein iPhone automatisch die richtige Musik auflegt, wenn ich wie ein Manager meinen Tag mit Meditation und Workout beginne?

Vieles des Vorgestellten war außerdem extrem USA-lastig. Öffentliche Verkehrsmittel werden in der Karten-App sicher erst mal ein paar Jahre nur in den USA angezeigt. Apple Pay kommt nach Großbritannien, bleibt ansonsten aber auf die USA beschränkt. Dass ein iPad auch von mehreren Personen genutzt wird und man deswegen verschiedene User einrichten können sollte, bleibt weiterhin ein Traum. Ich hätte mir das gewünscht.

Apropos Apple Pay. Neu bei Apple ist, dass man auf Gender Diversity setzt. Deswegen standen diesmal auch zwei Frauen aus dem Apple-Management auf der Bühne. Aber dermaßen lahm und unbegeistert, wie Jennifer Bailey die wenigen Neuerungen von Apple Pay vorstellte – damit tut man dem Gender-Thema keinen Gefallen … Peinlich. Ich habe mir das erste Mal in meinem Leben Maggie Thatcher ans Mikrofon gewünscht.

watchOS 2

Die Neuerungen von watchOS 2 hielten sich auch in Grenzen. Das mag man verstehen, weil seit dem Erscheinen von Version 1 gerade mal ein paar Wochen verstrichen sind – doch was mich bei diesem Part am meisten überrascht hat, war, dass noch nie bei einer Keynote ein so spärlicher Applaus aus dem Auditorium für angekündigte Neuerungen zu vernehmen war wie hier. Tja, die Developer sind wohl nicht wirklich begeistert von der Apple Watch. Man kann es ihnen nicht verdenken.

Wenn ich bis dahin zusammenfasse, so kann man nur schlussfolgern: Vokabular und vorgestellte innovative Features haben bei den Keynotes keine Passung mehr. Alles ist „awesome“, „fantastic“ oder „great“ – aber halt nur auf der Wortebene. Innovativ geht anders – das ist nicht mal Mittelmaß, was Apple bei den drei Betriebssystemen an Neuerungen geboten hat. Und dafür hat man zwei Stunden gebraucht. Gähn.

Apple Music

Kommen wir zum einzig überraschenden Moment der Keynote. Und das war, als Jimmy Iovine die Bühne betreten hat. Da stand auf einmal ein Mann, der nicht stromlinienförmig stunning war. Nein, der Mann erzählte eine Geschichte, mit ziemlich mitgenommener Stimme, mit Wortfindungsnot – ja, man hatte den Eindruck, dass er aufgeregt war, dass er nicht so ganz anwesend war (von irgendwelchen Substanzen wollen wir mal gar nicht sprechen). Aber er erzählte, wie gesagt, eine Geschichte, die eine Vision enthielt. Er hatte wirkliche Begeisterung in sich, keine antrainierte. Und man mag Apple Music nicht als den riesengroßen Wurf schlechthin ansehen – aber ein bisschen mehr als die anderen Streaming-Dienste bietet es schon. Drei Radiostationen, „Beats 1“ getauft, die man vielleicht wirklich mal wieder anhören kann und bei denen man nicht nur die Charts rauf und runter hören wird. Apple Connect mit ein klein wenig Hintergrundinformationen von Musikern und über Musiker – das Wort „Interaktion“, das im Wort „Connect“ angedeutet wird, wäre hier wohl eine Nummer zu groß.

Ist es überraschend, dass Jimmy Iovine der Höhepunkt des Abends war? Nein, denn er ist nicht im Apple-Universumssumpf groß geworden wie alle anderen Beteiligten, die auf der Bühne standen und anscheinend auf der gleichen Hype-Welle schwimmen. So geht das auf Dauer nicht gut. Wenn Apple mal wieder vorankommen will, dann muss man sich dort mit schamlosen Kritikern auseinandersetzen, Leuten, die den eingeschlagenen Weg demontieren und dekonstruieren und damit den Weg für Neues freimachen. Aber solange alles „awesome“, „fantastic“ und „great“ bleibt, werde zumindest ich mich innerlich langsam immer weiter weg von Apple bewegen.

Ja, wo ist bloß Steve Jobs, der kein Blatt vor dem Mund nahm? Der Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu können, wurde bei mir während der WWDC-Keynote immer größer. Er mag intern bei Apple oft ein Ekel gewesen sein, aber er hatte eine Vision, was man mit all dem Technikkram anfangen soll. Stattdessen gibt es jetzt anscheinend nur noch Kuschel-Diversity … Puh.

Ulf Cronenberg

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Was Apple und Firmen, die sich im Apple-Universum bewegen, so alles treiben, interessiert mich schon lange. Und ab und zu habe ich etwas dazu – wie zu einigem anderen, wenn es um Musik oder Fotografie geht – zu sagen …

3 Kommentare » Schreibe einen Kommentar

  1. Sehr provokativ, Herr Cronenberg! 🙂

    Gehen wir’s mal durch.

    Apple Mail? Ja, ich hätte da auch gern mal einen modernen Look. Mail kommt inzwischen doch ziemlich muffig daher. Fast schon retro. Warten wir noch mal 6 Monate, dann sieht das Programm wahrscheinlich wieder cool aus. 😉

    Apple Fotos? Volle Zustimmung! Ich finde es peinlich von Apple, den bekanntermaßen kreativen Usern so etwas anzubieten. Sogar iPad Apps wie Snapseed, VSCOcam oder Instagram machen bessere / schönere Ergebnisse möglich. Ganz schwach von Apple.

    Pages? Für mich das ideale Schreibprogramm, aber ich mag auch MacJournal sehr gern. Momentan nutze ich Pages. Wenn ich länger an einem Text schreibe, nehme ich den Vollbild-Modus von MacJournal (Grüne Schrift auf schwarzem Grund). Genial!

    Geräte die mich kennen? Unbehagen pur.

    Maggie Thatcher? Bei mir in etwa so „beliebt“ wie „Sozialdemokraten“.

    Apple Watch? Dazu habe ich alles gesagt.

  2. Ich fand die Keynote auch nicht sehr spannend, bin aber auch nicht besonders enttäuscht. Man konnte schon vorher lesen, dass das nächste Mac OS mehr Optimierungen als Neuerungen bringen soll. Wie sich diese in der Praxis auswirken werden, wird man allerdings erst sehen.

    Meine persönliche Enttäuschung: Warum stellt das reichste Unternehmen der Welt seinen Usern nicht mehr Cloud Space kostenlos zur Verfügung? Es gibt Alternativen, aber die iCloud ist doch ein Grund, um mehrere Apple-Geräte zu verwenden – also erst einmal zu kaufen.

    Ich bin gespannt, ob Bootcamp zukünftig Windows 10 unterstützen wird. Vielleicht nur mit Geräten der neuesten Generation?

    Spotify+MySpace+Soundcloud=Apple Music? Besser als alle drei zusammen? – Abwarten!
    Manchmal erfindet Apple das Rad (iWheel?) neu – manchmal verschwindet eine Sache auch einfach mit einem „Ping“ (Wortspiel beabsichtigt.)

    • Mensch Jürgen,

      du schaffst es sogar, mich mit deinen Kommentaren zum Schmunzeln zu bringen (iWheel, Ping). Sehr schön. 🙂

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